Warum ein höchstrichterliches Urteil ein Weckruf sein sollte
Andreas Bangemann
Das Urteil des Bundesgerichtshofs(BGH) vom 04. Februar 2025 - Nr. 026/2025) hat für viel Aufsehen gesorgt: Die obersten Zivilrichter erklärten Negativzinsen auf Sparkonten für unzulässig. Banken, die ihren Kundinnen und Kunden in den vergangenen Jahren „Verwahrentgelt“ für Spareinlagen in Rechnung gestellt haben, sehen sich nun mit möglichen Rückforderungen konfrontiert. Auf den ersten Blick mag es sich um eine reine verbraucherrechtliche Auseinandersetzung um AGB-Klauseln und den Kern des Sparvertrages handeln. Dahinter verbergen sich jedoch weitaus größere gesellschaftliche Fragen, die eng mit unserem Verständnis von Geld, Wohlstand, Gerechtigkeit und wirtschaftlicher Zukunft verbunden sind.
Wenn das höchste deutsche Zivilgericht argumentiert, der „Zweck von Spareinlagen“ sei die Vermögensbildung und der Schutz vor Inflation durch Zinsen, dann reproduziert es ein sehr traditionelles Verständnis von Sparen. Es geht um nominalen Werterhalt und - wenn möglich - um realen Wertzuwachs. Das Urteil stellt damit eine Momentaufnahme der jahrzehntelangen Konsensmeinung dar: Ersparnisse zeichnen sich dadurch aus, dass sie eben nicht „schrumpfen“, sondern möglichst „automatisch“ wachsen - getragen von einem für selbstverständlich gehaltenen Zinsmechanismus.
Der „selbstverständliche“ Zinsanspruch – ein Blick hinter die Kulissen
In der gelebten Praxis sind Zinsen nicht einfach eine Belohnung für Konsumverzicht oder für das vorübergehende Überlassen von Geld, sondern Teil eines größeren gesellschaftlichen Arrangements. Wer Geld bei der Bank anlegt, stellt es dieser gewissermaßen als Kredit zur Verfügung. Für die Bank ist der Einlagenzins zunächst ein Kostenfaktor. Über das Kreditgeschäft und andere Investitionen wird sie versuchen, eine so hohe Marge zu erzielen, dass nicht nur diese, sondern auch die weiteren eigenen Kosten einschließlich eines Gewinns gedeckt sind. Den Geldvermögen im System stehen also Schuldenberge anderer Akteure gegenüber. Damit wird deutlich: Zinsen sind kein isoliertes „Geschenk der Bank“, sondern ein Mechanismus, der denjenigen, die bereits über Ersparnisse verfügen, zusätzliche Ansprüche auf zukünftige Ressourcen und Produktion sichert.
Sobald man diese Zusammenhänge versteht, wird klar, dass ein anhaltendes Zinswachstum tendenziell zu einer Vermögenskonzentration führt, denn der auf der mathematischen Exponentialfunktion beruhende Zins- und Zinseszinsmechanismus sorgt dafür, dass dort, wo schon viel ist, immer schneller und in immer größerem Umfang noch mehr hinzukommt. Große Kapitalbesitzer erzielen auf diese Weise kontinuierlich Einkommen, ohne selbst aktiv zu arbeiten - und das, obwohl ihre Vermögenszuwächse oft über der durchschnittlichen realen Wachstumsrate der gesamten Volkswirtschaft liegen. Wer kein oder nur wenig Kapital hat, zahlt stattdessen hohe Mieten (die Zinsen sind in den Bau- oder Kaufkosten eingepreist) oder höhere Preise für Konsumgüter (auch darin stecken Zinskosten). So entsteht und verfestigt sich eine soziale Spaltung, bei der die Spitze der Vermögenspyramide immer weiter in den Himmel wächst.
Der BGH als Hüter des klassischen Spargedankens
Vor diesem Hintergrund könnte das Urteil des BGH auch kritisch diskutiert werden. Rechtlich argumentiert der BGH, dass das „wesentliche Merkmal“ eines Sparvertrages - nämlich der Kapitalerhalt und eine Verzinsung zum Inflationsschutz - durch Negativzinsen ausgehöhlt werde. AGB-Klauseln, die eine Minderung des Nominalguthabens vorsehen, seien mit Treu und Glauben und dem „Wesenskern“ des Sparvertrages unvereinbar.
Diese Argumentation stützt sich auf das gängige Vertragsrecht (speziell die Klauselkontrolle nach §§ 305 ff. BGB) und verweist auf den Verbraucherschutz: Verbraucherinnen hätten erwarten dürfen, dass ihr Sparguthaben jedenfalls nicht abnimmt. Ökonomisch lässt sich aber feststellen: Sobald das allgemeine Zinsniveau unter Null fällt - etwa aufgrund einer extrem expansiven Geldpolitik der Zentralbanken oder eines Überangebots an Kapital - ist die Erzwingung eines „Nominalwachstums“ durchaus fragwürdig.
Die Ersparnisbildung ist definiert als eine Abkehr vom Konsum und eine Hinwendung zur Vermögensbildung. Was aber, wenn die Realwirtschaft nicht genügend Wachstum generiert, um den Ersparnissen tatsächlich einen Mehrwert gegenüberzustellen? Hier kommt die makroökonomische Perspektive ins Spiel, die der BGH - naturgemäß - nur begrenzt berücksichtigt. Denn letztlich urteilt er im Rahmen der bestehenden Rechtsordnung, ohne das Regelwerk selbst in Frage zu stellen.
Die gesamtgesellschaftliche Dimension: Vermögenstransfer und Systemfrage
Betrachtet man Zinsen unter Verteilungs- und Gerechtigkeitsaspekten, so wird schnell klar, dass es hier nicht um ein kleines Randphänomen geht, sondern um grundsätzliche Fragen:
• Wie wollen wir mit Vermögen und Schulden umgehen, wenn die Gesamtlast von Zinszahlungen gerade für die weniger Vermögenden und für die breite Masse der Konsumierenden steigt?
• Ist ein System auf Dauer tragfähig, in dem stetige Zinserträge zwangsläufig zu einer immer stärkeren Vermögenskonzentration führen?
• Müsste in einer Welt knapper Ressourcen, drängender ökologischer Herausforderungen und sozialer Spannungen nicht grundsätzlich anders über „Wohlstand“ und „Vermögenbildung“ nachgedacht werden?
Dass die Bankenwelt in Zeiten von Negativzinsen überhaupt auf die Idee gekommen ist, selbst Klein- und Kleinstsparern Negativzinsen zu berechnen, ist ein Symptom dafür, dass das Finanzsystem in eine Schieflage geraten ist. Dennoch reagiert die Rechtsprechung (und weite Teile der Gesellschaft) reflexartig mit der Verteidigung des Status quo ante, also der Verzinsung von Spareinlagen. Das BGH-Urteil suggeriert: „Alles soll so bleiben wie bisher: Wer Geld auf ein Sparbuch legt, bekommt zumindest irgendeinen Zins; eine nominale Kürzung findet nicht statt.“
Neue Perspektiven auf „Vermögensaufbau“
Wäre es nicht an der Zeit, offen und breit zu diskutieren, was wir in einer modernen Wirtschaft unter „Vermögensbildung“ verstehen wollen? Traditionell wird darunter verstanden, dass man von seinem Einkommen regelmäßig etwas beiseite legt, es sicher anlegt und dafür Zinsen oder Renditen beanspruchen kann. Dieses Modell stammt aus einer Zeit, in der die Wirtschaft expandierte und hohe Wachstumsraten möglich waren. Doch die aktuellen Krisen - Klimawandel, Ressourcenknappheit, demografischer Wandel, Zerreißprobe für den Sozialstaat - stellen diese Logik auf den Prüfstand.
Rolle der Gesellschaft bei der „Aufbewahrung“ von Vermögen
Wenn wir Geld aus Arbeitseinkommen sparen, stellen wir realwirtschaftlich etwas zur Verfügung - Rohstoffe, Güter, Arbeitskraft -, um dafür später, in einigen Jahren oder Jahrzehnten, eine Gegenleistung zu erhalten. Es leuchtet ein, dass die „Konservierung“ der eigenen Sparleistung eine gewaltige organisatorische Leistung der Gesellschaft darstellt. Sie sorgt dafür, dass zum Zeitpunkt X die personellen und materiellen Ressourcen zur Verfügung stehen, die zum Zeitpunkt der Leistung des Sparers unmittelbar von Dritten verbraucht wurden.
In Zeiten stagnierender oder gar schrumpfender Bevölkerungszahlen, knapper werdender Ressourcen und enormer ökologischer Herausforderungen ist es nicht mehr selbstverständlich, dass über die selbst erbrachte Leistung hinaus eine ungebremste Rendite erwirtschaftet wird.
Alternative Modelle: Gemeinschaftliche Sicherung statt individueller Zinsmaximierung
Ein Ansatz, die zinsinduzierte Umverteilung nachhaltig zu begrenzen, findet sich in Geldreformideen wie denen von Silvio Gesell. Gesell schlug ein sogenanntes Freigeld vor, das einer Umlaufsicherung unterliegt und bei dem Geldbesitz nicht automatisch zu einer dauerhaften Vermögensmehrung führt.
Solche Konzepte versuchen, die systemische Umverteilung von Arm zu Reich zu begrenzen, da sich Kapital nicht mehr exponentiell durch Zins und Zinseszins vermehren kann. Dennoch können je nach konkreter Ausgestaltung Anreize zum Sparen bestehen - etwa in Form von stabilen Anlagemöglichkeiten, die um die Null-Prozent-Marke schwanken, aber nicht stark negativ werden. Geld soll in diesem Rahmen als Tausch- und Investitionsmittel dienen und nicht als reines Hortungsobjekt für Zinserträge. So entsteht ein Gleichgewicht: Sparen bleibt sinnvoll, hat aber nicht mehr den Charakter einer automatischen Renditequelle auf Kosten anderer Schuldner.
An die Stelle einer individuellen Zinserwartung könnte auch die Idee treten, dass eine Gesellschaft jedem Einzelnen eine gewisse Mindestsicherung für das Alter oder für schlechte Zeiten garantiert. Dieses Prinzip liegt zum Teil schon unseren Sozialversicherungen zugrunde, aber auch genossenschaftlichen Modellen, die Geldströme ohne den Umweg über die Kapitalmärkte direkt wieder gesellschaftlich sinnvoll einsetzen. Statt ständig Zinsen abzuschöpfen, wäre mancher vielleicht bereit, auf einen großen Gewinn zu verzichten, solange das Ersparte wenigstens annähernd seinen realen Wert behält und die Gesellschaft insgesamt dadurch nicht überfordert, sondern nachhaltig gestärkt wird.
Der Zins als politisches Gestaltungsinstrument
Notenbanken steuern über die Zinssätze nicht nur den Geldmarkt, sondern beeinflussen auch Investitions- und Konsumentscheidungen. In einem Umfeld, in dem ein ökologisches Umsteuern und sinnvolle Investitionen in Nachhaltigkeit dringend notwendig sind, kann ein niedriges oder gar negatives Zinsniveau durchaus sinnvoll sein, um bestimmte Triebkräfte in eine nachhaltigere Richtung zu lenken. Die traditionelle Vorstellung, dass Sparen immer belohnt werden muss, basiert auf einem Wachstumsmodell, das heute in Frage gestellt wird.
Das BGH-Urteil als Weckruf
Der BGH hat entschieden, dass Negativzinsen bei klassisch beworbenen Sparkonten unzulässig sind. Damit wird zwar formal der „Spargedanke“ geschützt, gesellschaftlich sollten wir dieses Urteil aber zum Anlass nehmen, genau diesen Spargedanken neu zu thematisieren. Denn wer heute Geld anlegt, tut dies in einer Welt, die sich massiv verändert:
• Wir steuern auf ökologische Grenzen zu, die permanente Wachstumsraten in Zweifel ziehen.
• Die Alterung der Gesellschaft erfordert neue Konzepte für die Finanzierung von Pflege und Betreuung.
• Weltweit nimmt die Ungleichheit zu, nicht zuletzt befeuert durch die Dynamik von Zinsen und Renditeerwartungen großer Vermögen.
Die Forderung nach einer automatischen Verzinsung ist daher kritisch zu hinterfragen. Vor allem die Vorstellung, man könne jedes Jahr risiko- und leistungslos einen Wertzuwachs erwarten, stößt an ihre systemischen Grenzen. Das Urteil berührt daher nicht nur das AGB-Recht und den Verbraucherschutz, sondern stellt (indirekt) eine Frage an uns alle: Wie kann und soll Vermögensbildung in Zukunft aussehen, ohne dass ein Teil der Gesellschaft unter der Last von Zinszahlungen leidet, während andere ein exponentielles finanzielles Wachstum erleben?
Gesellschaftliche und ethische Implikationen
Gerade weil der Zins im Alltag meist als harmloses Kontodetail wahrgenommen wird, werden die ethischen Dimensionen oft ausgeblendet. Ein Finanzsystem, das Zins und Zinseszins als ewigen Mechanismus implementiert, vernachlässigt den Endlichkeitshorizont unserer Erde. Von einer sozial gerechten Perspektive her ist das fortwährende Wachstum von Geldvermögen weniger eine Tugend als ein Risiko, das soziale Spannungen und letztlich Instabilität erhöht.
Wer konsequent über Alternativen nachdenkt, könnte sich – anknüpfend an das BGH-Urteil – die Frage stellen, ob es nicht möglich ist, das „Sparen“ strikt von einer Kapitalakkumulation auf Kosten anderer zu entkoppeln. Zum Beispiel in Form von Vermögensbildungsmodellen, die direkt in gemeinwohlorientierte Projekte, in ökologische Investitionen, in lokale Strukturen fließen. Die Geldanlage wäre dann nicht primär auf den größtmöglichen individuellen Profit ausgerichtet, sondern auf das gemeinsame Fortkommen. Das wiederum stärkt den sozialen Zusammenhalt und macht die Gemeinschaft als Ganzes so widerstandsfähig, dass die Sicherheit der Ersparnisse für eine Jahrzehnte später notwendige Altersvorsorge eine viel höhere Realisierungswahrscheinlichkeit hätte. Eine Gesellschaft ohne Extreme von Armut und Reichtum ist langfristig lebensfähiger.
Fazit und Ausblick
Der Bundesgerichtshof hat eine verbraucherschützende Entscheidung getroffen, die das klassische Verständnis von Sparverträgen bestätigt. Dass dies juristisch stimmig ist, bestreitet kaum jemand – und doch bleibt das Gefühl, dass hier nur einem Symptom herumgedoktert wird. Negativzinsen sind in der gegenwärtigen Geldarchitektur ein ungewöhnlicher, aber logisch konsequenter Auswuchs eines Systems, das sich in einem Spannungsfeld zwischen überschüssigem Kapital und knappen Realressourcen bewegt.
Der Umgang mit diesem Problem ist weit mehr als eine Frage juristischer Feinjustierung. Was wir brauchen, ist eine breite gesellschaftliche Debatte darüber, wie wir in Zukunft Vermögen bilden wollen, ohne anderen eine immer größere Schulden- und Zinslast aufzubürden. Dabei sollten wir uns von der Vorstellung verabschieden, dass positive Zinsen eine historisch-gewachsene Naturkonstante sind, die „einfach dazu gehört“. Sie waren, historisch betrachtet, das Ergebnis bestimmter wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Konstellationen, die es heute so nicht mehr geben muss.
Der Weckruf des BGH-Urteils könnte lauten: „Achtung, wir schützen zwar den traditionellen Sparvertrag, aber wir wissen, dass sich das Umfeld, in dem wir uns bewegen, drastisch verändert.“ Es ist nun an der Gesellschaft – Politik, Wirtschaft, Bürgerinnen und Bürgern – zu überlegen, ob wir das Geldsystem nur reaktiv stabilisieren oder ob wir eine tiefreichendere Reform brauchen.
Wäre es nicht schon ein enormes Verdienst einer Gesellschaft, den Wert der Ersparnisse nominal (und möglichst auch real) zu erhalten und damit dem Einzelnen den gewünschten Konsumaufschub zu ermöglichen? Muss damit zwangsläufig der Glaube verbunden sein, dass daraus jedes Jahr ein Renditeplus ohne Gegenleistung sprudelt? Letzten Endes berührt diese Frage den Kern dessen, wie wir unseren Wohlstand definieren und verteilen.
Diese Überlegungen zeigen: Das BGH-Urteil vom 04. Februar 2025 markiert nicht nur einen Sieg der Verbraucherzentralen gegen die Negativzinspolitik der Banken, sondern könnte auch als Diskussionsgrundlage dienen, um tiefgreifende Veränderungen im Verständnis von Geld, Vermögensbildung und gesellschaftlicher Verantwortung anzustoßen. Es wäre sicher wünschenswert, wenn die öffentliche Debatte dieses Potenzial nutzt und uns zu den drängenden Systemfragen führt, die in vielen Köpfen längst herangereift sind – es braucht nur einen lauten Weckruf, um sie auch zu behandeln.
Hier ist der Originaltext von Andreas Bangemann zu finden:
andreascarl.mataroa.blog/blog/rechtsstaat-und-gesellschaft-die-rolle-des-bgh-bei-der-zinsfrage/